Left Behind , …Missing Pictures

Carla Orthen


2007

(in German)





Abschiede
Juergen Staack gibt seine Bilder der Öffentlichkeit preis und lässt sie wortwörtlich hinter sich.

Andorra de Ville, Seté, Marseille, Palermo, Eisenhüttenstadt, Vilnius, Kaliningrad, Boston, Kairo, Paris, Basel, Peking, New York.

Juergen Staack hinterlässt von Juli 2005 bis Oktober 2006 in insgesamt zwölf –dreizehn- Städten und auf vier Kontinenten Polaroidfotos, die er auf öffentlichen Plätzen an Gebäudewänden, Briefkästen oder U-Bahnstationen in Serien anbringt. Die Fotos zeigen vorwiegend Porträts von Menschen, denen er auf seiner Reise begegnete (im öffentlichen Raum an einer gut frequentierten Straße wird ein Set aus Blitzen und Großformatkamera aufgebaut), wobei er die Bildnisse einer Stadt immer in der jeweils nächsten zeigt. Nach ihrer Anbringung werden die Bilder der Öffentlichkeit überlassen: Den zufällig vorbeikommenden Passanten ist freigestellt, ob sie sie be- oder missachten, ihnen nähere Aufmerksamkeit schenken oder beliebig viele Polaroids entfernen und mit nach Hause nehmen. In jeder Stadt wiederholt sich der gleiche Projektablauf: Die Auswahl, Signierung und Datierung der in der vorherigen Stadt aufgenommenen Fotos, die sorgfältige Suche nach einem repräsentativen Ort für die nächste Foto-Installation, dort dann die Anbringung der Bilder, das Foto-Shooting von Passanten für die nächste Station, Dokumentation des Ganzen durch Fotokopien, Foto-, Film- oder Webcam-Aufnahmen.


Seine Polaroids sind bis zu 20 x 25 cm grosse Unikate und nicht reproduzierbar. Keine aus der Hüfte geschossenen Snap-Shots, sondern wohl ausgewählte, voll ausgeleuchtete Porträtaufnahmen. In einem bedachten Moment eingefangen und in dem nächsten unwiederbringlich ausgesetzt, zurückgelassen, verloren.
Der bewusste Abschied bedeutet für ihn ein Wagnis, ein Loslassen vom eigenen künstlerischen Erzeugnis. Er verzichtet auf die Auswahl seines Publikums, die Kontrolle über die Wertschätzung seiner Arbeiten und ihren Verbleib. Er vergibt sich die Chance, seine Bilder zu sammeln, als Originale erneut auszustellen oder gar zu verkaufen. Am Ende seiner Reise hat er Hunderte von Personenporträts ihrem eigenen Schicksal überlassen.

Eigendynamik
Über den klar strukturierten Projektablauf hinaus entwickelt jede Stadt und jede Begegnung ihr Eigenleben.

Der Ablauf der Foto-Shootings wie –installationen ist keine intime Angelegenheit und findet mitten auf der Strasse statt: Die Grossformat-Kamera erinnert an historische Zeiten, das Heraus- und Abziehen der Polaroids ist ein ritualgleicher Prozess, der im Zeitalter der Digitalfotografie fremd geworden ist. Schnell bilden sich neugierige, irritierte Menschenmassen um den Fotografen und die Aktion erhält Performance-artige Züge. Gespräche kommen auf, Sprachverwirrungen in Russland, Ägypten und China. In Kaliningrad prügeln sich zwei Passanten fast, um auf das letzte Bild zu kommen. Viele wollen ihr eigenes Porträt direkt mit nach Hause nehmen, überlassen es aber dann doch dem Künstler. In Peking –Kaliningrad- wird ein Fernseh-Team Zeuge des Ganzen und bringt die Aktion samt Interview in den Morgennachrichten. In Kairo erschwert das offizielle Fotografie-Verbot im öffentlichen Raum die Transaktion, auch in New York wiegelt ein Polizist erste Versuche ab, die Bilder an eine Wand zu kleben. Juergen Staack erklärt immer wieder sein Vorhaben, mit Worten, Händen und Füßen, anhand von Bildern und erfährt dabei Begeisterung, fröhliche Teilhabe, Eigendynamik, Ablehnung und Unverständnis. Das Projekt lebt.


Verbleib  
Jeder Abschied ist verbunden mit der Hoffnung auf ein Wiedersehen.
 
Staack hinterlässt Spuren, die ihm die Chance eröffnen, über den Verbleib seiner Bilder zu erfahren: Jedes Polaroid ist rückseitig mit der eigenen Post und email-Adresse versehen.
Er ist sich der Absurdität seines Unterfangens bewusst: Jede freiwillige Preisgabe seines Besitzums ist verbunden mit der Möglichkeit, es zurück zu erhalten. Nur die Verantwortung über jeden Verbleib hat er abgegeben, den unbekannten Findern überlassen. Es tröstet ihn, Verursacher eines Prozesses zu sein, dessen Fortgang viele weitere Beteiligte bestimmen werden. Menschen, die er in Kaliningrad eingefangen hat, finden sich plötzlich auf der anderen Seite des Globus an einer Häuserwand in Boston wieder. Personen wiederum, denen er in Boston begegnet ist, haben in Kairo ihren Besitzer gefunden (man weiß ja nicht, ob sie gerettet wurden, vielleicht sind sie auch durch witterung verfallen). Einander Fremde werden in Gruppenporträts zusammengeführt und gehen auf Reisen in ein anderes Land. Mark aus Boston entfernt (fand die Bilder zwei Strassen weiter) das Bildnis einer Frau und eines Paares von der benachbarten Häuserwand und sendet ihm Ansichten von deren Verbleib in seiner Wohnung, in Klarsichthüllen gesteckt und in einem Ordner abgeheftet. Hervé aus Bordeaux fühlt sich nach der Mitnahme zweier Polaroids in Seté zu sehr als Dieb (Zitat: „Am I a thieve?“)und schickt die Beute an ihren ursprünglichen Besitzer zurück.
Es sind Begegnungen über räumliche und kulturelle Grenzen hinweg, Völkerverständigungen der besonderen Art. Seine ganz persönliche Globalisierung. Er hat eine Kettenreaktion ausgelöst, die er selbst nicht mehr kontrollieren kann und will – und er fühlt sich wohl in der selbst gewählten Rolle als Zauberlehrling.

Dokumentation
Bleibt zuletzt die Verarbeitung und Vermittlung des Verursachten.

Die Absurdität von Left Behind , ...Missing Pictures besteht darin, das es auf den Verlust von Unikaten basiert, jedoch eine dokumentarische Flut und Verbreitung von Bildern und Medien zur Folge hat.
Juergen Staack hat alle Prozesse fotografisch erfasst und wurde von Sonja Rogusch filmisch begleitet. Bereits auf seiner Reise setzt er zu Versuchen an, Live-Übertragungen der Geschehnisse ins Netz zu stellen und sie an einen anderen Ort zu übertragen um den Verlust für Betrachter greifbarer zu machen. Die Bilder von Bildern von Personen führt er auf seiner Website archivarisch zusammen, versieht sie akribisch mit Datum, Standort, in ihrer Anzahl, Größe und ihrem Verbleib.
Seine Ausstellung im Kunstraum Space Other in Boston 2006 zeigt bereits auf beeindruckende Weise Ausmaß und Vielfalt des Projekts: Videos von Shootings und Installationen, lebensecht aufgezogene Bildtapeten, Handyaufnahmen, gerahmte found pictures inmitten einer Überzahl an Fotokopien der noch immer vermissten.
Left Behind , ... Missing Pictures reflektiert die Rolle der Fotografie und ihre Wertigkeit als Unikat oder Kopie in einer Welt, die tagtäglich von Bildern überflutet wird. Das Projekt entwickelt mehr und mehr Eigenleben und wächst sich immer weiter fort.

- Juergen Staack hinterließ Juli 2005 bis Oktober 2006 insgesamt 405 Polaroid-Fotografien in zwölf -dreizehn- Städten dieser Welt. Davon sind ihm bis zum heutigen Tag zwei Bilder zurückgesandt worden, über den Verbleib weiterer drei Aufnahmen ist er informiert worden. Die restlichen 400 Fotos bleiben weiterhin vermisst. In der Ausstellung „Nach dem Sputnik“ sind vier Filme zu sehen, eine Dokumentation in Kairo mit der Webcam übertragen und alle anderen drei sind von Sonja mit denen Sonja Rogusch das Projekt in Paris, Peking und New York begleitete. -


www.missing-pictures.net